Vom 21. bis 25. Januar 2011 fand in Berlin-Schwanenwerder die
Jahrestagung der Konferenz landeskirchlicher Arbeitskreise „Christen und
Juden“ im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (KLAK) statt
www.klak.org. 35 Delegierte aus 18 der 21 Landeskirchen, die Mitglied in
der KLAK sind, nahmen teil, einer von ihnen war bereits an der Gründung
der KLAK vor 33 Jahren beteiligt. Für dieses Jahr hatten wir uns eine
zweigeteilte Tagung vorgenommen: im Rahmen unserer jährlichen
theologischen Fortbildung befassten wir uns intern mit einer
Verhältnisbestimmung von christlich-jüdischem Dialog und christlich-
islamischem Dialog; zusätzlich veranstalteten wir aus Anlass des Jubiläums
„50 Jahre Arbeit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) in Israel“
eine Kooperationstagung mit Vertretern der ASF zum Thema „Land und
Staat Israel in der jüdischen Tradition und in der christlichen Theologie“. Im
Folgenden berichte ich von diesen beiden Tagungsteilen und weiteren
Programmpunkten.
Zur aktuellen Lage im Nahen Osten
Seit einigen Jahren gehört der Austausch darüber, wie wir die aktuelle Lage
in Nahost sehen, fest zu unserem Tagungsprogramm. Wir bitten eine der
KLAK nahestehende Person um ein Impulsreferat und tauschen uns dann
über unsere unterschiedlichen Wahrnehmungen und Einschätzungen aus.
Alle von uns können über Gespräche berichten, in denen Menschen aus
unseren Gemeinden und Kirchen zu einfachen Deutungsmustern neigen, voll
Ungeduld eine „Lösung“ fordern und genau wissen, wer schuld daran ist,
dass es eine solche noch nicht gibt. Wenn 35 Leute, die den Nahen Osten
bereist haben, zahlreiche Kontakte zu dortigen Menschen und Institutionen
pflegen und die sich durch Medien und Bücher auf dem Laufenden halten,
die Lage diskutieren, kommt vor allem deren Komplexität zum Bewusstsein.
Heute kann man vernünftige, nachvollziehbare Argumente hören für das
gesamte Spektrum an Meinungen von „Frieden ist möglich“ (so z. B. der
frühere israelische Botschafter Avi Primor) bis zu „In absehbarer Zeit ist
nicht mit Frieden zu rechnen“ (so oder ähnlich z. B. der Journalist Ulrich
Sahm). Ziel unserer Debatte ist es nicht, alle Delegierten auf eine Meinung
festzulegen. Wir wollen vielmehr besser verstehen, was geschieht, und uns
gegenseitig unserer Verbundenheit mit den unterschiedlichsten Partnern
dort versichern. Und wir üben eine Gesprächskultur ein, in der man
aufeinander hört und nicht verurteilt, auch wenn man manches anders sieht
als der andere.
Zum Verhältnis von christlich-jüdischem und christlich-islamischem Dialog
In der letzten Zeit gibt es immer wieder Bestrebungen, Verbindungen
zwischen dem christlich-jüdischen und dem christlich-islamischen Dialog zu
knüpfen (vgl. die Berliner Thesen des Internationalen Rates der Juden und
Christen ICCJ; vgl. Stiftung Zürcher Lehrhaus – Judentum, Christentum,
Islam; vgl. auch Stuttgarter Lehrhaus, Stiftung für interreligiösen Dialog).
Die KLAK wollte den unterschiedlichen Charakter der jeweiligen
Dialogbeziehung und die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit erkunden und
reflektieren. Dazu luden wir drei Referenten ein, einen Christen, einen
Muslim und einen Juden. Jeder sollte über den Dialog der eigenen Religion
mit den je anderen beiden sprechen.
Der Praktische Theologe Prof. Dr. Bernd Schröder aus Saarbrücken betonte
die Notwendigkeit beider Dialoge nebeneinander und die Erwartung an das
Zusammenwirken aller drei Religionen, wenn es um bestimmte
gesellschaftliche Wertefragen (Bewahrung der Schöpfung, Umgang mit
Fremden, Erhalt von kollektiven Traditionen wie dem wöchentlichen Ruhetag
u. a.) geht. Aus der Sicht der Kirchen bestehe hier noch mehr Bedarf an
Koordinierung beider Dialoge. Am Beispiel paralleler Themen
(Monotheismus, Stellenwert der göttlichen Weisung, Wahrheitsanspruch und
Gewaltbereitschaft, Umgang mit der je inneren Vielfalt), Prinzipien (Respekt
und Toleranz, Geschichtsbewusstsein und Zukunftsorientierung,
Authentizität, Identität und Verständigung, Konvivenz) und Anlässe
(Nachbarschaftskontakte, Feste, Initiativen gegen Fremdenfeindlichkeit,
gemeinsame Schulfeiern, Kooperation bei Konflikten bzw. Notlagen)
beschrieb er die Nähe der drei Religionen zueinander. Jede Äußerung im
Dialog sei perspektivisch gebunden, so Schröder, keine Position sei unstrittig
oder alternativlos, darum sei Respekt gegen andere Positionen bzw. eine
eigene „reflektierte Positionalität“ unabdingbar. Im Folgenden beschrieb er
sechs Modelle bzw. Paradigmen für eine theologische Begründung des
Dialogs und befragte sie hinsichtlich ihrer Funktionalität, Theologizität und
Fokussierung. Im Einzelnen sind dies
1. Das Alltagsparadigma hat nicht die theologische Annäherung, sondern die
Schaffung von Vertrauen z. B. durch interreligiöse Gesprächskreise zum
Ziel.
2. Das israeltheologische Paradigma betont die Einzigartigkeit des
christlichen Verhältnisses zum Judentum gegenüber den anderen Religionen
und versäumt es, Kategorien für das Gespräch mit diesen zu entwickeln.
3. Das theologisch reflektierte Abraham-Paradigma, für das Karl-Josef
Kuschels Buch „Streit um Abraham“ (1994) oder auch Ausführungen des
Theologen Bertold Klappert exemplarisch stehen, fristet ein Nischendasein.
Seine Stärken: es ermöglicht das theologische Gespräch, geht von der
Selbigkeit des Einen Gottes aus und erlaubt die Unterscheidung von
Judentum, Christentum und Islam von den anderen Religionen.
4. Das humanistisch-ethische Paradigma (Hans Küng: Weltethos) bezieht
die bilateralen Dialoge positiv aufeinander aufgrund ihrer gemeinsamen
ethischen Sache. Durch vier unverrückbare Weisungen (Gewaltlosigkeit,
Solidarität, Toleranz, Gleichberechtigung von Mann und Frau) nimmt es das
„Humanum“ und eben nicht die jeweilige Lehre einer Religion in Anspruch.
So erlaubt es allerdings keine Begründung besonderer Beziehungen
zwischen den drei großen monotheistischen Religionen.
5. Das Monotheismus-Paradigma zeigt die Verwandtschaft von Judentum,
Christentum und Islam auf einer religiös abstrakten Ebene und lässt das
Gespräch zwischen ihnen lohnend erscheinen, grenzt freilich andere
Religionen aus.
6. Das religiös-theologische Paradigma bestreitet den absoluten
Wahrheitsanspruch jeder Religion und gesteht jeder einen Teil der Wahrheit
zu. Es bietet keine Kategorien für eine Anerkennung der Besonderheit der
drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam.
Der Referent sieht die umfassendsten Stärken im dritten und im sechsten
Modell, rät jedoch zur differenzierten Dialogizität und dazu, sich bei den
genannten sechs Modellen eklektizistisch zu bedienen. „Wir brauchen so viel
trialogische Abstimmung wie möglich und so viel bilaterale Abstimmung wie
nötig.“ Sinnvoller als ein permanenter Trialog sei die Vernetzung der Dialoge
im Sinne einer „abrahamitischen Gastfreundschaft“ (nach Uwe Gräbe), die
Gegensätze und Unterschiede anerkennt und Begegnungen unter das Gebot
der Freundlichkeit stellt.
In der Diskussion formulierte der Referent die Aufgabe, den christlich-
jüdischen Dialog durch Schnittstellen zu anderen Religionen anzureichern
und verwies auf das biblisch-jüdische Modell der Noachiden (B’nei Noach).
Der Vortrag von Prof. Schröder ist in weiten Teilen publiziert in der
Zeitschrift für Theologie und Kirche (ZThK) 2008.
Den muslimischen Beitrag zur Tagung gab der Islamwissenschaftler Bekir
Alboga aus Köln, DITIB-Referatsleiter für interkulturelle und interreligiöse
Zusammenarbeit. Er sprach über das Verhältnis des islamisch-christlichen
zum islamisch-jüdischen Dialog. Alboga hob die Frieden stiftende Funktion
des interreligiösen Dialogs hervor. Der Islam sei keine neue „Religion“,
sondern eine „neue Bewegung innerhalb des Monotheismus“. Anhand einer
Reihe von Koranstellen legte er die Offenheit des Islam zum interreligiösen
Dialog mit Juden und Christen dar (V,43-48; XXIX,46; II,136; III,64; II,62).
Aus diesen Stellen, der Biografie Mohammeds und Ereignissen aus der
frühen islamischen Geschichte leitete er einige Grundsätze ab, besonders
die Absage an die zwangsweise Islamisierung von Juden oder Christen. Ein
besonderes Anliegen war Alboga eine nicht-fundamentalistische Lesart des
Koran und anderer traditioneller Texte. Insbesondere bei Texten, die ein
Gewaltpotenzial enthielten, sei heutigen islamwissenschaftlichen
Grundsätzen zufolge der Kontext zu beachten. Die religiöse und die
politische Rolle Mohammeds seien voneinander zu trennen.
Anschließend wandte sich Alboga den deutschen Realitäten zu und beklagte
die grundsätzliche Verschlechterung der Bedingungen für den interreligiösen
Dialog seit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11.9.2001. Seit
dem Erscheinen der EKD-Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft“
bzw. seit der Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. bzw. Prof. Joseph
Ratzinger habe sich unter Muslimen Enttäuschung ausgebreitet. Während
die DITIB ehrenamtliche Dialogbeauftragte ausbilde, strichen die
christlichen Kirchen in diesem Bereich Stellen. Seit den israelisch-türkischen
Verstimmungen wegen der Gazaflotte im Sommer 2010 gebe es auch
Spannungen im muslimisch-jüdischen Gespräch. Innerislamische
Differenzen und Sprachschwierigkeiten versuche der Koordinierungsrat der
Muslime zu bearbeiten. Interreligiöse Gespräche auf kommunaler Ebene
seien geschwächt, das Fehlen von Gesellschaften für christlich-muslimische
Zusammenarbeit mache sich bemerkbar, Muslime würden zur Woche der
Brüderlichkeit nicht eingeladen. Das einzige Beispiel einer bundesweiten
interreligiösen Zusammenarbeit sei das Projekt „Weißt du, wer ich bin?“ in
Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK). Alboga
sprach sich nachdrücklich für eine Fortsetzung dieses Projekts aus. Ab und
zu gebe es Friedensgespräche, Friedensgebete oder Gemeinschaftsfeiern,
doch nie sei es zur Vermischung religiöser Traditionen gekommen. Wie es
weiter gehe, hänge von der politischen Entwicklung in Deutschland ab.
Vertreter der derzeitigen Regierung instrumentalisierten den Dialog.
In der Diskussion kam die Sorge des Referenten vor Diskriminierung und
Ausgrenzung der Muslime noch deutlicher zum Ausdruck. 58 % der
Deutschen identifizierten den Islam mit Terrorismus, 88% mit Gewalt und
Zwangsverheiratungen. Allein in Berlin habe es sieben Anschläge auf
Moscheen gegeben. Viele junge gebildete Muslime verließen Deutschland.
Das muslimisch-jüdische Verhältnis würde sich nach einer Entschuldigung
Israels bessern. Auf kleine Schritte und Gespräche zwischen DITIB und dem
Zentralrat der Juden wolle er nicht verzichten, so Alboga, Besuche von
Muslimen in Synagogen fänden weiter statt. Er lobte ausdrücklich den
Bericht des Bischofs der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Dr.
Martin Hein, mit einem Plädoyer für offene Begegnungen zwischen den
Religionen.
Die jüdische Perspektive auf unser Tagungsthema trug Rabbiner Prof. Dr.
Tovia Ben-Chorin aus Berlin bei. Er hielt einen sehr persönlichen, mit
Erfahrungen und Anekdoten angereicherten Vortrag. Hier ginge es nicht
darum, einander zu streicheln, sondern auch unangenehme Fragen zu
besprechen. Unter Juden gelte er, Ben-Chorin, als Nestbeschmutzer, weil er
das israelische Rassismusproblem anspreche. Ehrlich zu sein bedeute jedoch
nicht, dass er Israel nicht liebe. Die israelische Unabhängigkeitserklärung
sei von so vielen unterschiedlichen Menschen unterschrieben worden wie
kein zweites Dokument der jüdischen Geschichte. Daher sei gegen die
religiöse Vereinnahmung des israelischen Staates auf die in diesem
Dokument niedergelegte Selbstverpflichtung hinzuweisen, den Staat auf den
Visionen der Propheten Israels aufzubauen.
Im interreligiösen Dialog, so der Referent, müsse man die Ziele des Dialogs
von Politik deutlich unterscheiden. Wir suchen durch den Dialog Vertrauen.
Vorbild dafür ist etwa Jeremia (1,4): „Ich sehe einen Mandelzweig“. „Mein
Vertrauen“, so Tovia Ben-Chorin, „beginnt horizontal“, d. h. zwischen
Mensch und Mitmensch, „vertikal wird es erst am Horizont, dann wird das
‚du‘ zum ‚DU‘“ – der Dialog zwischen Menschen führt zum Gespräch mit Gott
und nicht umgekehrt. „Ich versuche eine Sprache zu sprechen, die mich mit
Atheisten zusammenbringt.“ Ist erst Vertrauen zwischen Menschen
gewachsen, stehe den Politikern Terrain zur Verfügung, um den Frieden
zurückzugewinnen. „Wenn ich zuerst auf Sicherheit beharre, werde ich nicht
weiterkommen.“ Das Problem der Muslime sei, dass sie praktisch nie die
Erfahrung gemacht hätten Minderheit zu sein. Gott sei Dank hätten
umgekehrt die Juden nie oft über andere Völker geherrscht. Es sei neu, dass
Juden das Schicksal anderer kontrollierten, das gehe nicht schon nach 60
Jahren so glatt wie in Europa – und wie lange habe es hier gedauert!
Dann unterbrach Rabbiner Ben-Chorin seinen Vortrag und bat die KLAK-
Delegierten, Thesen für den Dialog zu sammeln. Folgende sechs Punkte
wurden genannt: 1. Wird Religion als Störfaktor oder als Entwickler des
Friedens verstanden? 2. Die Unterschiedlichkeit des Gesprächspartners ist
zu respektieren. 3. „Ich bin ich – du bist du“: Selbsterkenntnis durch
Erkenntnis des anderen. 4. Gemeinsames und Trennendes gilt es
anzusprechen. 5. Verantwortung für die Zukunft: „Wie wollen wir
miteinander leben?“ 6. Der eine Gott stiftet die Einheit der Menschen.
Nun brachte der Referent seine eigenen Thesen, erarbeitet von einer
evangelisch-jüdischen Gesprächskommission in der Schweiz und
veröffentlicht in der Gemeinsamen Erklärung von Juden und evangelischen
Christen in der Schweiz, hg. v. SEK und feps, ISBN 978-3-7229-6035-7:
1. Das Geschenk der Freiheit: Wählen zu können (z. B. zwischen Leben und
Tod, 5. Mose), ist ein Geschenk von Gott. Der Dialog der Gemeinschaften
setzt Freiheit und Vertrauen voraus, darum lässt er sich nicht erzwingen.
Wer in Freiheit lebt, lebt in Verantwortung. Daher ist die Grenze zwischen
Freiheit und Anarchie einzuhalten. Auch soll die Freiheit nicht dazu benutzt
werden, sich von anderen weitgehend abzugrenzen. Miteinander zu leben
kann andererseits nicht bedeuten sich zu assimilieren. Zur Beantwortung
der Frage „Warum sind wir da?“ brauche ich den anderen.
2. Die Schrift besser kennen lernen. Juden und Christen haben eine heilige
Schrift gemeinsam, die sie unterschiedlich lesen. Geschieht
Schriftauslegung im Kampf oder in Annäherung? Was bedeutet für uns
Offenbarung? Was macht die Schrift für mich heilig? Jüdische
Gesprächspartner für Christen sollten auch in einem innerjüdischen Dialog
stehen.
3. Unsere gemeinsame Verantwortung ist unsere Antwort auf Gottes Ruf.
Jetzt erst, an dritter Stelle, reden wir von Gott. Die Verantwortung für unser
Gemeinwesen lässt uns für Demokratie eintreten, deren Wurzeln im
Judentum zu finden sind. „Demokratie ist für mich eine religiöse Sache.“
Maimonides (Hilchot Melachim, Jad chasaka XI,4) zufolge befördern
Christen und Juden das Kommen des Messias, dienen der Vervollkommnung
der Welt (tikkun olam) und dienen gemeinsam Gott.
In der Diskussion wurde verstärkt nach dem jüdisch-islamischen Dialog
gefragt. Für die Zeit des Mittelalters, so der Referent, könne man von Dialog
sprechen, heute nur noch von Informationsvermittlung. Der Islam brauche
eine Aufklärung. Eine Verständigung über die unterschiedlichen
Perspektiven auf biblische bzw. religiöse Texte könne nur auf der Grundlage
historisch-kritischer Textlektüre geschehen.
Die drei Vorträge stießen unter den KLAK-Delegierten auf großes Interesse.
Kritisch angemerkt wurde, dass im Programmablauf keine Zeit für die
interne Verständigung über das Gehörte unabhängig von den Referenten
vorgesehen war.
Land und Staat Israel in der jüdischen Tradition und in der christlichen
Theologie
Der zweite theologische Schwerpunkt der Tagung wurde zusammen mit
Vertretern der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste erarbeitet.
„Erez Israel in der jüdischen Tradition und im neueren religiösen Denken des
Judentums“ lautete das Thema von Dr. Hans-Michael Haußig von der
Universität Potsdam. Im Judentum, so Dr. Haußig, gebe es zwei
unterschiedliche Zugangsweisen zum Landthema: die „halachische“, d. h.
religionsgesetzlich-konstitutive, und die „aggadische“, alle anderen
literarischen Zeugnisse (aus Bibel und rabbinischem Schrifttum)
umfassende. Seit der rabbinischen Zeit gebe es im Wesentlichen vier
Positionen:
1. Das Land ist grundsätzlich heilig, es hat eine spirituelle Qualität und ist
daher von zentraler Bedeutung, denn nur hier lässt sich die Tora vollständig
erfüllen.
2. Das Land ist so außergewöhnlich heilig, dass ein „normaler“ Jude
(benoni) dort vor der messianischen Zeit nicht wohnen kann. Diese Position
entstand in Aschkenas (Deutschland) im Mittelalter und führte zum Streit
zwischen zionistischen und religiösen Juden.
3. Das Land ist heilig, jedoch kein besonderes Thema. Vielmehr wird auch
die Diaspora bejaht, durch die das jüdische Volk seinen Auftrag Licht der
Völker zu sein erfüllen kann.
4. Dem Land wird eine besondere Rolle abgesprochen, diese hat sich
erledigt. Diese Meinung war im deutschen Reformjudentum des 19.
Jahrhunderts vorherrschend, heute ist sie zurückgedrängt.
Die ersten drei Positionen verbinden das Land mit Erlösung und
Messianismus. Strittig ist die Frage, ob der Einzelne aktiv zur
Landgewinnung beitragen oder auf Gottes Eingreifen warten soll. Position 1)
fordert den aktiven Beitrag in Form der Einwanderung oder von Spenden.
Position 2) lehnt teilweise jeden Aktivismus ab. Verwiesen wird auf drei
Schwüre, die im Talmud genannt sind: Das Land zu gewinnen ohne Waffen,
ohne das Ende zu bedrängen und nicht gegen die Völker der Welt. Das
bedeutet: Rückkehr erst in messianischer Zeit. Position 3) möchte die
Diaspora nicht überwinden. Aktivisten können allenfalls mit Sympathie
rechnen. Position 4) sieht Erez Israel als historische Größe an: das
Festhalten am Land widerspreche den ethischen Grundsätzen des
Judentums.
Auf diese systematische folgt die historische Einordnung der verschiedenen
Positionen. In der Bibel wird die enge Beziehung zwischen dem Volk und
dem Land Israel hervorgehoben. Das 1. Buch Mose wiederholt die
Landverheißung häufig. In 2. Mose 3 erscheint in einer Offenbarung an
Mose das Motiv der Herausführung der Israeliten aus Ägypten, das mit dem
Motiv des Einzugs in das Land Kanaan zusammengehört. In 1. Mose geht es
um Abrahams Sippe, in 2. Mose um das aus ihr entstandene große Volk. Die
Landgabe hängt ab vom Gehorsam gegen Gott. In Mischna Kelim I,6 erfolgt
die religionsgesetzliche Grundlegung (Halacha) der Heiligkeit des Landes in
zehn Stufen, die in der Heiligkeit des Allerheiligsten im Tempel gipfeln. Die
Aggada (bTa’anit 10a; bKetubbot 110b-111a) sagt, dass dieses Land bei der
Schöpfung als erstes erschaffen worden sei und dass Juden grundsätzlich im
Land wohnen sollen. In der Liturgie (Achtzehnbittengebet, Pessachhaggada)
wird diese Position bestätigt.
Die großen jüdischen Denker des Mittelalters vertreten unterschiedliche
Auffassungen. Für Jehuda Halevi hat Erez Israel einen besonderen Grad an
Realität als Zentrum des Universums und Begegnungspunkt zwischen Erde
und Transzendenz. Maimonides beschreibt Erez Israel als Thema der
Halacha, nicht der Philosophie: physisch bestehe zwischen Land und
Diaspora kein Unterschied, nur im Blick auf die Erfüllung der Gebote.
Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg ob der Tauber bestreitet die
menschliche Verfügungsgewalt über das Land, weil es Gott gehöre.
Nach der Aufklärung differenziert sich das Judentum religiös, unzeitgemäße
Gebote verlieren an Bedeutung. Ohne Volk verliere das Land seine
Heiligkeit, sagt der Talmudist Samuel Holdheim. Aus der Kritik an der
unzulänglichen Emanzipation geht der Zionismus hervor, nach dessen
prominentestem religiösen Denker Rav Kook die Sehnsucht nach Erez Israel
das jüdische Volk habe überleben lassen. Das Land und das Volk seien
heilig, so Kook. Die Besiedlung des Landes, die nach Rav Kook auf
Staatlichkeit zielen solle, sei der Beginn der Erlösung. Der Sohn von Rav
Kook verengte die Ideen seines Vaters und propagierte die Besiedlung des
Westjordanlandes als menschlichen Beitrag zur Erlösung. „Nie war dem
Judentum die Beziehung zum Land gleichgültig“, schloss der Referent seinen
Vortrag.
Prof. Dr. Rainer Kampling von der Freien Universität Berlin sprach über das
Thema „Land und Staat Israel und die Christenheit“. Er setzte beim
Glaubensbekenntnis ein: der 1. Artikel vom Handeln Gottes in der
Geschichte sei antimarkionistisch (Markion wollte im 2. Jahrhundert alles
Jüdische aus dem Christentum und dem Neuen Testament entfernen). Der
Gott des Alten Testaments sei der Gott der Erzväter und der Vater Jesu
Christi. Die Glaubensgeschichte Israels gehöre in den Glauben der an Jesus
Christus Glaubenden hinein. Seit der Antike gebe es jedoch auch die
exkludierende Christologie eines superioren Christentums, die das Judentum
seiner eigenen Geschichte enterbt. Noch vor wenigen Jahren relativierte die
US-Bischofskonferenz ihre Aussage, alle Verheißungen an Israel seien in
Jesus Christus erfüllt, erst nach Protesten. Das gegenwärtige Pontifikat
vertrete eine ähnliche Theologie. „Der theologische Preis dafür: dieser Papst
kennt keine Eschatologie und keine Hoffnung mehr, dass Jesus Christus
wiederkehrt“.
Die Frage nach dem Land war nie nur theologisch, sondern immer auch
politisch. Jesu Reich-Gottes-Botschaft betraf implizit auch das Land der
Verheißung. Weder das Land noch die Stadt Jerusalem haben in Jesu
Verkündigung keine Bedeutung, führte der Referent anhand einiger
neutestamentlicher Textstellen aus. Als Beweis für diesen Umsturz wird Jesu
Kreuzestod angesehen. Im Neuen Testament fehlten Berichte über
Reinigungsriten Jesu, über Gebete Jesu im Tempel oder über Opfer Jesu.
Neben den tempelkritischen Pharisäern war Jesus Vertreter einer sehr
tempeldistanzierten Gruppe, das Land hat ihn nicht interessiert. Prof.
Kampling nennt dies „Entheiligung“ des Landes. Auch für andere Teile des
damals universalen Judentums waren Jerusalem und das Land Israel nur
mehr Symbole – für das frühe Christentum wurde diese Sicht die Regel. So
wurde das Christentum zur einzigen antiken Gruppe, die die Vorstellung von
heiligen Orten aufgegeben hatte.
Im Kontext des christlichen Antijudaismus kam es zu einer
Wiederentdeckung des Landes. Dass die Juden Land und Stadt Jerusalem
verloren hatten, wurde als Gotteserweis für das Evangelium angesehen. Als
Kaiser Konstantin das Christentum legalisierte, beanspruchte das
Christentum alle Qualitäten Israels für die Kirche. Dem Judentum wurde
abgesprochen, weiterhin Religion zu sein: es sei seit dem Verlust des
Tempels nicht mehr kultfähig, da es in ständiger Unreinheit lebe. Diese
Argumentation wurde bis ins 20. Jahrhundert verwendet: das Judentum sei
illegitim, eine Religion ohne die Billigung Gottes.
Der Kirchenvater Origenes entwickelte eine Straftheorie gegen die Juden:
Landverlust und Vertreibung seien die Strafe für die Kreuzigung Christi. Weil
sie bestraft worden seien, stehe fest, dass sie und nicht Pilatus die Mörder
seien. Nach Origenes hat der jüdische Landverlust für das Christentum
Offenbarungsqualität: Gott offenbare, dass das Evangelium wahr ist. Auch
diese Argumentationsform wurde bis ins 20. Jahrhundert lebendig erhalten.
Als Kaiser Julian Apostata den Juden den Tempelwiederaufbau gestattete,
verkündeten Theologen, jeder, der versuche, das Land an die Juden
zurückzugeben, müsse sterben. Julian wurde von einem seiner Soldaten
ermordet. Christlicher Einfluss auf den römischen Kaiser erwirkte die
Minderung des jüdischen Rechtsstatus im Römischen Reich.
Auseinandersetzungen zwischen Christen und Juden führten im Land Israel
bis zum 6. Jahrhundert zur weitgehenden Separierung der beiden Gruppen.
Zur Zeit des Kaisers Theodosius wurde behauptet, die Landverheißung gelte
den Christen. Papst Urban II. begründete 1096 den Aufruf zum ersten
Kreuzzug mit dem Argument, das Heilige Land sei christliches Land. Die
Juden und Muslime Jerusalems fielen drei Jahre später einem Blutbad zum
Opfer.
In Liedern, Bildern und geistlichen Spielen verfestigte die christliche
Tradition diesen Anspruch auf das Land. Als der Staat Israel gegründet
wurde, sahen pietistische Kreise besonders in Württemberg dies als die
Aufhebung einer Gottesstrafe und göttliche Versöhnungstat an – die Schoa
sei die Letztstrafe Gottes für das jüdische Volk gewesen. Römisch-
katholische Fundamentalisten hingegen delegitimierten den Staat Israel, er
sei gegen Gottes Willen errichtet, die Kreuzigung Christi sei unabgeltbar.
Schon im 4. Jahrhundert hatte es im Land Israel eine christliche
Pilgerstruktur gegeben. Es verbreitete sich die Auffassung, Heiligkeit könne
sich auf bestimmte Räume konzentrieren und bei Berührung, z. B. mit
einem Stück Stoff, mit nach Hause genommen werden. Dieser Umschwung
war nur mit staatlicher Unterstützung möglich, sie gehen auf Kaiser
Konstantins Mutter Helena zurück, von der antijüdische Texte überliefert
sind. Das Land Israel wurde auf ihre Veranlassung vor allem durch die
Intensivierung des Kirchenbaus christianisiert. In Jerusalem florierte die
Fälschung von Reliquien für die Christenheit im Römischen Reich. Die Juden,
die die Heiligkeit des Landes nach christlicher Auffassung störten, wurden
verdrängt. Straßen, Hospitäler und Pilgerstätten wurden gebaut. Die
aufkommende Verehrung der alttestamentlichen Propheten führte zur
christlichen Enteignung jüdischer Orte. Bis ans Ende des 20. Jahrhunderts
wurde die Lehre, das Land sei den Christen verheißen, aufrechterhalten.
1994 erkannte der „Heilige Stuhl“ Israel diplomatisch an. Zuvor bestritt Pius
X. im Gespräch mit Theodor Herzl den jüdischen Landanspruch. Der Vatikan
erhob Einspruch gegen die Balfourerklärung. In einem Schreiben an den
Völkerbund bezeichnete er das Land Israel als „unser Land“. Als die UNO
das Land in einen jüdischen und einen arabischen Staat teilen wollte,
verlangte der Vatikan für Jerusalem den internationalisierten Status eines
corpus separatum. Hatte Paul VI. bei seinem wenige Stunden dauernden
Besuch in Israel es noch vermieden, den Namen des Staates
auszusprechen, den die Kirche lange für sich beansprucht hatte, so erklärte
Johannes Paul II. 1984 in „Redemptoris anno“ den Staat Israel zur Heimat
des jüdischen Volkes, in der die Zeugnisse der Geschichte des jüdischen
Volkes aufbewahrt würden. Der Staat Israel, so der polnische Papst, habe
Anspruch auf Sicherheit und Unversehrtheit.
Land und Staat Israel sind für viele Christen Projektionsflächen ihrer
Hoffnungen, Erwartungen, Ansprüche und Widersprüche. „Israel“ steht für
mehr als für ein Land auf der Landkarte. Friedrich-Wilhelm Marquardt hat
das in seinem Buch „Die Juden und ihr Land“ so tiefsinnig erkannt wie kein
anderer. Die christliche Theologie, so Prof. Kampling abschließend, braucht
die Erinnerung an diese ihre Geschichte und die kritische Selbstreflexion
darüber. Sie muss sich aus der babylonischen Gefangenschaft ihres
Antijudaismus befreien. In der Diskussion antwortete der Referent auf die
Frage, wie denn nun eine positive Version einer christlichen Theologie des
Landes Israel aussehen könne, Christen sollten Israel einfach einmal in
Ruhe lassen.
Weitere Programmpunkte der Kooperationstagung von KLAK und Aktion
Sühnezeichen Friedensdienste (ASF)
Am 24.1. absolvierten KLAK und ASF ein ausgesprochen dichtes
Kooperationsprogramm. Neben den beiden oben zusammengefassten
Vorträgen von Dr. Haußig und Prof. Kampling gab es vier weitere
Arbeitseinheiten zu den Themen
- 50 Jahre Sühnezeichen in Israel – Projekte, Positionen, Partnerschafte
- Das „Kairos-Palästina-Dokument“ in der Diskussion (mit EKD-
Oberkirchenrat Jens Nieper)
- Aktuelle politische und theologische Stellungnahmen zu Israel
- Leben & Arbeiten im Lande Israel – biografische und theologische
Wirkungen (mit drei KLAK-Delegierten, die ASF-Freiwillige in Israel bzw.
Studierende an der Hebräischen Universität Jerusalem waren)
Aus diesen vier Punkten fasse ich im Folgenden nur noch die Ausführungen
des Geschäftsführers der ASF, Pfarrer Dr. Christian Staffa, zum Thema „50
Jahre Sühnezeichen in Israel – Projekte, Positionen, Partnerschaften“
zusammen.
Die fünfzigjährige Geschichte von ASF in Israel ist wirklich aufregend, sie
verlangt eine intensive Auseinandersetzung. Israel gehörte zu den in der
Gründungserklärung der ASF 1958 ausdrücklich genannten Ländern, die als
erste um Versöhnung gebeten wurden. Der Leiter von ASF in Israel Otto
Schenk fragte einmal Martin Buber, was Deutsche tun sollten. Buber
antwortete zu Schenks Überraschung, Aussöhnung sei eine rein deutsche
Problematik. „Es geht um eine Aussöhnung mit euch selbst!“
In Israel waren die Menschen vor allem darüber perplex, dass die deutschen
Freiwilligen nicht wussten, was ihre Eltern im Krieg gemacht hatten – über
Deutschland lag Stillstand und Schweigen. Ende der 60er Jahre erfolgte
durch die Zulassung von Kriegsdienstdienstverweigerern eine Politisierung
von ASF. Freiwillige begannen die israelische Politik zu kritisieren. Die
Leitung von ASF vertrat eine andere Linie und verhinderte z. B. bei der
großen Friedensdemonstration 1981 in Hamburg den Auftritt eines
palästinensischen Redners. ASF sieht einen engen Zusammenhang zwischen
Versöhnung und Frieden. In Israel sieht man das anders und fragt, ob der
Namenszusatz „Friedensdienste“, der im neuen Logo größer gedruckt ist als
das Wort „Sühnezeichen“, das Ende der für die Gründung von ASF
ausschlaggebenden Motivation bedeute. Der Theologe Friedrich-Wilhelm
Marquardt sah in ASF die Realisierung des „Tuns und Hörens“, eines
jüdischen Grundsatzes der Toraauslegung aus 2. Mose 24.
Die Israelfrage ist in Deutschland hoch projektiv angelegt, so Christian
Staffa. Israel ist die Projektionsfläche für eigene emotionale Befindlichkeiten
und den eigenen Stand bei der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit.
Es geht tatsächlich um die Aussöhnung von uns Deutschen mit uns selbst.
Darum legt ASF einen Schwerpunkt auf die biografisch und
familienbiografisch orientierte Bildungsarbeit mit den Freiwilligen. Sie sollen
ihr eigenes Problem bearbeiten, nicht den Nahostkonflikt.
Viele ehemalige Israel-Freiwillige bleiben nicht nur ASF, sondern auch Israel
verbunden und leiden unter der friedlosen Lage. Doch ASF kritisiert immer
wieder die verschiedenen simplifizierenden Bilder vom Konflikt, zu denen
viele neigen. Der Dialog zwischen ASF und der Ökumenischen Bewegung ist
schwierig. Auf den Kirchentagen versucht ASF die Nahostdebatten mit der
Frage zu durchbrechen: Überlegt doch mal, warum wir diesen Konflikt so
interessant finden! Ganz klar kritisiert ASF antiisraelische Rechtfertigungen
wie „Als Christ stehe ich auf der Seite der Opfer“ – die Opfersolidarität hat
mit Palästina gar nichts zu tun, sondern nur mit mir selbst, sagt Christian
Staffa. Auf den Kirchentagen zeige sich, dass das christliche Publikum
flächendeckend affektgeladen gegen Israel ist. Die Minderheit von
Philosemiten sei freilich genauso in sich verkrümmt.
Der Nahostkonflikt steht bei ASF nicht im Zentrum der Israelarbeit.
Innerhalb der deutschen „Friedensbewegung“ ist ASF bezüglich Israels ein
einsamer Rufer geworden – alle anderen „wissen“, dass Israel „böse ist“.
ASF hat es nach dem Zwischenfall mit der Gazaflottille (31.5.2010) nicht
geschafft, in der Friedensbewegung eine Debatte über Gewaltfreiheit und
über die Fehlentscheidungen bei der Vorbereitung dieser Aktion anzustoßen.
Mein Fazit: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste gehört zu den wichtigsten
Einrichtungen der Evangelischen Kirche.
Michael Volkmann in Ölbaum Nr. 51